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„Die Verkehrswende beginnt im Kopf“ – Interview mit Dr. Almut Neumann

LETZTE ÄNDERUNG am Freitag 2. September 2022 17:17 durch BV LuiseNord


Das folgende Interview erschien als Artikel in der Stadtteilzeitung „ecke köpenicker No. 3 Juni Juli 2022″


Dr. Almut Neumann
Dr. Almut Neumann im Interview – Foto: Ch. Eckelt
Dr. Almut Neumann ist in Mitte die bündnisgrüne Bezirksstadträtin für Ordnung, Umwelt, Natur, Straßen und Grünflächen.

Ein Gespräch über Fahrradstraßen, E-Mobilität und Rücksichtnahme

Frau Dr. Neumann, Verkehrswende ist ein großer abstrakter Begriff. Aber was bedeutet das konkret für Ihre Arbeit in den kommenden Jahren in Mitte?

Mir ist bei der Verkehrswende wichtig, dass alle – und damit vor allem die schwächsten Verkehrsteilnehmer:innen – sicher in Mitte unterwegs sein können.

Wir müssen daher zuerst auf die Menschen schauen, die zu Fuß unterwegs sind. Deshalb will ich zunächst die Sicherheit an vielen Kreuzungen im Bezirk verbessern, auch mit den Kräften des Ordnungsamtes, indem wir dort beispielsweise Fahrradbügel und E-Scooter-Abstellflächen auf bisherigen Auto-Parkplätzen einrichten.

Dann werden Kinder, die die Straße überqueren wollen, nicht mehr so leicht übersehen, und sie selbst können die Straße auch besser einsehen, weil die Kreuzungen nicht mehr zugeparkt werden können.

Dann ist da zweitens der Ausbau des Radverkehrsnetzes, der sehr viel schneller vorankommen muss als in der Vergangenheit. Dabei geht es nicht nur um Radstreifen an den Hauptverkehrsstraßen, sondern vor allem auch um Fahrradstraßen in den Nebenstraßen.

Drittens wollen wir in Mitte in den kommenden Jahren insgesamt zwölf Kiezblocks einrichten. Deshalb schauen wir uns gerade den ganzen Bezirk an, um die Kieze zu identifizieren, die am meisten vom Kfz-Durchgangsverkehr belastet sind. Im Gebiet um die Bellermannstraße haben wir zusammen mit örtlichen Initiativen schon ein Konzept entwickelt und mit der Umsetzung angefangen.

Insgesamt sollen dort an fünf Stellen mit Pollern sogenannte „Diagonalsperren“ eingerichtet werden, so dass man mit dem Auto zwar noch alle Stellen in dem Gebiet erreichen, aber nicht mehr einfach so über einen „Schleichweg“ durch den Kiez hindurchbrettern kann.

Zu der bereits umgestalteten Kreuzung im Bellermann-Kiez erreichen uns überwiegend positive Rückmeldungen.

Die meisten Fachleute lehnten solche Maßnahmen früher ab, weil sie den Verkehr in den Gebieten zu Umwegen zwingen und dadurch die Verkehrslast eher wächst als zurückgeht. Warum sollen solche Sperrungen jetzt sinnvoll sein?

U.a. liegt das an den modernen GPS-Navigationssystemen, die uns in Echtzeit Schleichwege über Nebenstraßen anzeigen, sobald es auf den Hauptstraßen voller wird. Das stört die Ruhe dort erheblich und die Abgasbelastung steigt.

Verkehrsregelung durch Poller
Verkehrsregelung durch Poller – Foto: Ch. Eckelt

Dabei brauchen wir gerade in hochverdichteten Bereichen unbedingt Orte und Straßen, in denen es ruhiger zugeht – das ist ja gerade der Sinn der Unterteilung in Haupt- und Nebenstraßen.

Deshalb fordern so viele Initiativen derzeit die Einrichtung von Kiezblocks. Auch Expert:innen schlagen diese mittlerweile oft vor.

Andere Maßnahmen, wie z.B. Fahrbahnverengungen, erfordern in der Umsetzung erhebliche Planungskapazitäten, die wir einfach nicht haben.

Und wenn bei Umbauten auch noch unterirdische Versorgungsleitungen oder die Kanalisation betroffen sind, müssen wir die Versorgungsbetriebe einbinden – dann wird es extrem aufwändig.

Den Verkehr mit einer Reihe Poller umzulenken, ist dagegen vergleichsweise einfach. Diese Poller kann man übrigens mit einem besonderen Schlüssel auch umklappen, so dass Rettungskräfte durchkommen oder in besonderen Notfällen Umleitungen durch die Wohnviertel organisiert werden können. Im Bellermann-Kiez probieren wir es jetzt einfach aus.

Und was mich besonders freut: An der Ecke Bellermann-, Heidebrinker und Eulerstraße entsteht gerade neben den Pollern der „Bellermanngarten“ mit Sitzmöglichkeiten für die Nachbarschaft und mit Urban Gardening. Das ist es, was ich mir grundsätzlich für diese Orte wünsche: dass kleine grüne Oasen entstehen, wo vorher Autos geparkt haben, und dass sich die Menschen den öffentlichen Raum zurückholen.

Im Wedding und in Moabit wird in diesem Jahr fast überall die Parkraumbewirtschaftung eingeführt. Das Weddinger Brunnenviertel hat zu Jahresbeginn den Anfang gemacht, dort kann man inzwischen in den Gewerbegebieten am Humboldthain sogar ganze Straßenabschnitte fast völlig ohne parkende Autos erleben. Wie sollen wir mit diesem gewonnenen Raum umgehen?

Generell muss der Platz neu verteilt werden. In Berlin sind etwa zwei Drittel des öffentlichen Straßenraums für Autos reserviert, obwohl nur jeder sechste Weg mit ihnen zurückgelegt wird. Das soll sich mit der Verkehrswende ändern – aber die Umgestaltung des öffentlichen Raums wird viel Zeit erfordern.

Für das Stadtklima in Zeiten der Klimakrise ist auch die Entsiegelung von bisherigem Straßenraum ein großes Thema, und wir arbeiten an entsprechenden Strategien. Aber dabei müssen wir realistisch bleiben, denn großflächige Entsiegelung ist sowohl planerisch als auch finanziell voraussetzungsvoll.

Vorerst können wir auf öffentlichem Straßenland vor allem kleinere Maßnahmen umsetzen, etwa Hochbeete anlegen. Urban Gardening sollte meines Erachtens eine wichtige Rolle spielen und wir werden auf jeden Fall auf Initiativen aus der Bevölkerung angewiesen sein – so wie im Bellermanngarten!

Der alte Senat hat zwei Wochen vor der Wahl einen neuen Radverkehrsplan für Berlin beschlossen. Wie kommt Mitte, wie kommen Sie mit ihm zurecht?

Im Großen und Ganzen sehr gut. An einigen Stellen gibt es sicher noch Klärungsbedarf, insbesondere in Moabit, wo die südliche Beusselstraße aus dem Radwegenetz ausgespart bleibt, obwohl sie eigentlich ausreichend Platz für breite Radstreifen hat und nach dem Mobilitätsgesetz ohnehin welche bekommen müsste.

Doch ansonsten bin ich sehr zufrieden mit dem Plan. Er ist eine gute Arbeitsgrundlage – deshalb hängt er auch in meinem Büro.

Wir kümmern uns im Bezirk derzeit vor allem intensiv um die Nebenstraßen. Denn dort sind wir als Bezirk allein zuständig und können damit schneller agieren.

Umstritten sind Fahrradstraßen. Wie ist Ihre Haltung?

Ich bin für die Einrichtung von Fahrradstraßen. Dabei kommt es aber entscheidend darauf an, wie man sie konkret ausgestaltet.

In der Linienstraße funktioniert sie meiner Ansicht nach ziemlich gut: Dort ist die Radstraße und die Dooring-Zone deutlich auf dem Boden markiert und gegenläufige Einbahnstraßen für Kfz halten den Kfz-Durchgangsverkehr aus der Straße heraus.

In der Stargarder Straße in Prenzlauer Berg wurden dagegen bei der Einführung Fehler gemacht, weshalb einige jetzt ein Horrorbild von Fahrradstraßen zeichnen.

Solche Fehler müssen wir aber nicht wiederholen. Im Gegenteil halte ich ein gut gemachtes Netz aus Fahrradstraßen für eine wirkliche Bereicherung für den Radverkehr.

In der Berliner Innenstadt fällt auf, dass hier kaum Jugendliche mit dem Rad unterwegs sind. Vor den Oberschulen stehen oft nur wenige Fahrräder, die Schülerinnen und Schüler kommen selbst im Sommer meistens zu Fuß oder mit der BVG. Wer in Berlin aufwächst, der scheint sich das Radfahren erst gar nicht anzugewöhnen. Wie kann man das ändern?

Wir müssen die Infrastruktur ändern!

Überlegen Sie einmal: Kinder über zehn Jahre dürfen nach der Straßenverkehrsordnung nicht mehr auf dem Gehweg fahren, sondern müssen, falls keine Radwege da sind, die Fahrbahn benutzen. Das werden aber die wenigsten Eltern in der Berliner Innenstadt erlauben.

Wenn aber sichere Radrouten zur Schule oder zum Sportverein führen, wird man auch mehr Jugendliche mit dem Rad auf der Straße sehen.

Entscheidend ist dabei nicht nur die objektive Sicherheitsstatistik anhand von Unfallzahlen, sondern vor allem auch das subjektive Sicherheitsgefühl. Deshalb sollten Radstreifen entlang von Hauptverkehrsstraßen meines Erachtens immer geschützt sein und deshalb sind auch gute Radverbindungen im Nebenstraßennetz so wichtig.

Ein großes Thema ist die Elektromobilität. Verbrennungsmotoren sollen aus der Berliner Innenstadt ja verschwinden. Wer sich heute in der Innenstadt aber ein E-Auto zulegen will, findet dort kaum Auflademöglichkeiten, die wenigen Ladesäulen sind fast immer belegt. Gleichzeitig stehen zum Beispiel im Wedding ganze Parkhäuser leer…

Wir werden uns auf jeden Fall neue Modelle überlegen müssen.

In der Tat könnten Parkhäuser ein Schlüssel für mehrere Herausforderungen sein: Zum einen könnten sie E-Auflademöglichkeiten bieten und so einen Beitrag zur Loslösung vom Verbrennermotor leisten.

Zum anderen könnten sie auch Mobilitätshubs mit einer großen Flotte an Sharing-Angeboten sein, die den Bürger:innen zur Verfügung stehen.

Ohnehin sollten wir meines Erachtens mehr in Richtung Carsharing denken. Die meisten privaten Autos sind in Wahrheit viel weniger „Fahrzeuge“ als „Stehzeuge“, da sie nur sehr selten benutzt werden, aber natürlich die gesamte Zeit über Platz beanspruchen. Das könnte man mit verlässlichem Carsharing viel effizienter regeln.

Spannend finde ich auch den Modellversuch eines autofreien Kiezes, der in Kreuzberg geplant ist. Hier sollen die Bürger:innen die vorhandenen Autos zumindest teilweise in einem nahegelegenen Parkhaus abstellen.

Eine repräsentative Umfrage aus dem vergangenen Jahr hat gezeigt, dass eine große Mehrheit dies befürwortet.

In vielen Kiezen in Mitte würde das Ergebnis ganz ähnlich ausfallen, da bin ich mir sicher.

Bei der Verkehrswende geht es meist um Umbau, Parkplätze, Radwege, Kreuzungen. Das ist die „Hardware“.

Aber was ist mit der „Software“, also unseren Verhaltensweisen? Generell müssen wir die Stadt und ihre Gestaltung viel mehr von den vulnerablen Gruppen, von den schwächsten Verkehrsteilnehmer:innen her denken. Dabei geht es vor allem um Kinder, aber genauso um ältere Menschen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind, oder Menschen mit körperlichen Einschränkungen.

Die Verkehrswende beginnt im Kopf, beginnt mit der Rücksichtnahme auf andere und der Bereitschaft, auch die Perspektive der Schwächsten wahrzunehmen.

Wir alle sind irgendwann mal Fußgänger:innen, haben Kinder in der eigenen Familie oder im persönlichen Umfeld, wir alle werden mal alt.

Mir liegt es sehr am Herzen, für diese „Verkehrswende im Kopf“ zu sensibilisieren und an alle zu appellieren, diesen Perspektivwechsel zu vollziehen.

Das Interview führten Christof Schaffelder, Ulrike Steglich für die „ecke köpenicker 3 Juni Juli 2022“ – hier lesen/downloaden


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